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Mein erstes Jahr als Integrationskraft

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Wir suchen Schulbegleiter! Vielen Dank an Anika Ackermann für diesen herzerwärmenden Erfahrungsbericht. Bewerbungen bitte an: Katrin.soennecken@lebenshilfe-lued-mk.de

Beruflich gerade entwurzelt, etwas planlos saß ich da, als das Telefon klingelte. Meine Freundin schoss ohne Floskeln gerade heraus „Wir brauchen dringend eine Integrationskraft an der Förderschule für einen autistischen Jungen und ich dachte sofort an dich."

Zuerst googelte ich, was eine Integrationskraft denn eigentlich so macht, zwei Telefonate später stand ein Vorstellungstermin fest, ein Probetag folgte und schwupps war er da, der erste Tag, so wirklich Ahnung, was da auf mich zukommen würde, hatte ich nicht.

Ich lernte „meinen Jungen“ (11) ziemlich deutlich kennen. Er spricht nicht, aber er sagte mir mit jeder Faser seines Körpers „Geh weg und lass mich bloß in Ruhe!“. Augenkontakt fand gar nicht statt.

Die ersten Tage war ich nahezu ausschließlich damit beschäftigt, ihn an seinem Platz im Klassenzimmer zu halten. Er nutzte jede Möglichkeit, sich zu entziehen, wegzulaufen, um sich entspannt in irgendeine Ecke zu verkriechen und am Boden zu liegen. Vermeintlich kurze Wege, wie etwa zur Toilette, wurden zu Hochleistungsausdauersport für mich. Nach einigen Tagen hatte ich Muskelkater an Stellen, wo ich dachte keine Muskeln zu haben.

Gemeinsam mit den Lehrerinnen der Klasse, sie kannten „meinen Jungen“ ja schon länger, testeten wir verschiedene, bisher funktionierende Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme, ich stieß auf Sturheit. Ich bekam viele Informationen, wie er in seiner Schulzeit bisher war, aber all das brachte mich nicht weiter.

Nach einem Wochenende voller Fragezeichen, Muskelentspannungsbädern und auch ein paar Tränen, beschloss ich komplett neu anzufangen.

Und so startete ich Montag neu, die einzige Aufgabenstellung, die ich an mich hatte war, beobachten und „da sein“. An dem Morgen brauchten wir wieder sehr lange Zeit vom Bus zum Klassenzimmer, normalerweise lies er sich ungefähr 5 mal auf dem Weg fallen, bisher halfen dann 2-3 Erwachsene mit, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Nach der zweiten Hilfsaktion beendete ich das Prozedere. Ich kniete mich vor ihn, sah ihn an und nahm seine Hände. Er entzog sie, doch ich hielt sie immer wieder und sagte leise „L. wir schaffen den Weg gemeinsam.“. Irgendwann waren alle Schüler an uns vorbeigezogen und wir waren allein im Schulflur. „Mein Junge“ lag mittlerweile in seiner bequemsten Position und starrte eine Tür an. Plötzlich stand er auf und wollte zur Tür rennen, ich lief mit, schnappte mir seine Hand und sagte „Prima, lass uns gemeinsam gehen.“ und änderte im Lauf seine Richtung. An dem Tag waren es nur 3 Stopps und es wurden nicht wieder mehr.

Es wurde ein Spiel mit Distanz und Nähe, je mehr er sich entzog, umso näher kam ich. Ich studierte seine Körpersprache, ich hielt den ganzen Tag seine Hand, sei es in Bewegung oder im Sitzen, ich spürte sofort, wenn er sich auf den Boden fallen lassen wollte und lernte so, ihn sofort mit einer Gegenbewegung daran zu hindern. Das gefiel ihm natürlich nicht und er wurde zuweilen aggressiv. L. ist für sein Alter recht groß und stark, das erste Mal in meinem Leben war ich für meine Größe wahnsinnig dankbar, denn damit genügte meine Präsenz, die sich ihm entgegenstellte.

Ich sprach sehr wenig, ich suchte den Augenkontakt und hielt immer eine seiner Hände.

Autisten können ihre Sinneswahrnehmungen nicht filtern, alles prasselt schonungslos auf sie ein. Sie sind überfordert und suchen unterschiedliche Wege sich selbst in irgendeiner Form zu regulieren. „Mein Junge“ hält sich oft die Ohren zu, klopft sich gegen die Stirn oder auf die Brust. Und dann war er da, der Moment. L. sah mir in seiner Not direkt in die Augen und zog meine Hand zu seinem Ohr, er nahm meine andere Hand und führte sie zu seinem anderen Ohr. Ich rückte mit meinem Stuhl vor, wir saßen Knie an Knie, er hielt meine Hände an seinen Ohren fest und schaute mich an. Unsere Köpfe bewegten sich aufeinander zu, wir legten unsere Stirn aneinander und hielten inne. Ich weiß nicht mehr, wie lang dieser Moment dauerte, aber er berührte mich zutiefst. Er nahm mich mit in seine Welt und ich war ergriffen und dankbar für sein Vertrauen. Der Bann war gebrochen und es wurde einfacher, der Fokus änderte sich, wir konnten uns nun langsam den Aufgaben widmen, die ja nun mal auf dem Stundenplan standen. Weitere Kontaktaufnahmen gab es aber erst mal nicht.

Nach ca 4 Monaten hatten wir ein lockeres Verhältnis, der Weg vom Bus ins Klassenzimmer funktionierte ohne Pausen, kleine Botengänge konnten wir entspannt machen, Toilettengänge wurden unproblematisch, er arbeitet gut mit. Und plötzlich war viel Platz für Humor, L. zeigte mir Stellen, wo er kitzelig war, er zuckte immer zusammen und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Eines Tages, L. hatte es sich auf dem Schulhof gemütlich gemacht, ging ich zu ihm, um seine Jacke zurechtzurücken. Der Reißverschluss klemmte und ich zupfte an ihm herum. Er grinste mich an und ich kitzelte ihn am Schlüsselbein, da gab es plötzlich kein Halten mehr, er fing an so laut zu lachen, wie es keiner vorher gehört hatte. Er lachte Tränen, ich dann ebenso, andere guckten erstaunt, wer das sein könnte, ungläubig wurde diese Szene beobachtet. Ich hörte auf zu kitzeln, ging ein paar Schritte zurück, wollte ihn Luft holen lassen, doch L. robbte hinter mir her, er zog an meinem Hosenbein, streckte seine Hand nach meiner aus, zog sie herunter und wollte, dass ich weitermache. Wieder war ich tief beeindruckt.

Von diesem Tag an verging bis heute kein Tag mehr, an dem nicht sein Lachen durch die Schule ertönt.

Seitdem erzielen wir immer weiter Erfolge, wir sind zu einem wunderbaren Team zusammengewachsen. Seit ein paar Wochen läuft „mein Junge“ seine Wege neben mir – ohne, dass ich ihn an der Hand halte. Manchmal scheint ihm der Erfolg wohl selbst unheimlich und er greift nach meiner Hand und zieht mich mit. Ich laufe dann lächelnd neben ihm her und denke an unsere ersten Gänge.

Gemeinsam werden wir nächste Woche nicht nur das Schuljahr, sondern auch die Unterstufe beenden. Nach den Sommerferien starten wir also in die Mittelstufe. Für einen Autisten gibt es kaum schlimmere Dinge, als Änderungen im normalen Ablauf. Es wird also wieder ein Neustart geben, mit neuen und alten Hürden.

Aber ich weiß genau, wenn wir uns im neuen Alltag verlieren sollten, dann wandern meine Hände an seine Ohren, unsere Stirn wird sich berühren, dann sind wir für den Moment in der gleichen Welt... und können alles schaffen.

Anika Ackermann

Integrationskraft ASS
Integrationskraft ASS

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