Früher war es üblich, dass Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen spätestens nach dem Tod ihrer nächsten Angehörigen in eine Anstalt „abgeschoben“ wurden. Um dem entgegen zu wirken, suchte die Lebenshilfe Lüdenscheid in den 70er Jahren ein Grundstück für den Bau einer Wohnstätte für Erwachsene mit geistiger Beeinträchtigung. 1979 bot sich die Möglichkeit zum Kauf eines herunter gekommenen Gutshofes in Wigginghausen. Mit der Einrichtung sollte eine wichtige Lücke in der Fürsorge von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen geschlossen werden. Hier sollte Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen die Möglichkeit gegeben werden, ein möglichst selbstständiges Leben zu führen. Die Idee war klar formuliert: Der Gutshof sollte zum schützenden und vertrauten Heim für Erwachsene mit geistiger Beeinträchtigung werden.
Für das Loch von 500.000 DM bauten die Initiatoren zuversichtlich auf die Spendenfreude der Lüdenscheider Bevölkerung. Bürgermeister Jürgen Dietrich sagte damals: „Für diese gute Sache werden wir einen großen Wirbel machen. Um den Erfolg ist mir nicht bange“. Recht sollte er behalten: Die Aktion Wigginghausen löste eine beispiellose Welle von Sympathie und Solidarität für Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen aus, es waren Wogen der Hilfsbereitschaft, wie man sie in Lüdenscheid in dieser Form noch nicht erlebt hatte. Der Spendenbereitschaft und dem Ideenreichtum der Aktionen waren keine Grenzen gesetzt. Ob mit Picknicks, Konzerten oder Sport-veranstaltungen: ein von Jürgen Dietrich zusammengetrommelter Freundeskreis organisierte zahlreiche Festivitäten, um die Spendenfreudigkeit der Lüdenscheider zu animieren.
Picknick-Hauptorganisator Günter Rodehüser überreichte Manfred Silz, damaliger Vorsitzender der Lebenshilfe Lüdenscheid, bereits nach dem ersten Fest an die 9.000 Mark. Dank ging an alle ehrenamtlich Mitwirkenden vom Verein Kinder-betreuung, von der Deutsch-Belgischen-Gesellschaft, der Lüdenscheider Verbindungs-stelle der Internationalen Polizei-Association und vom MGV Teutonia. Ein herzliches Dankeschön ernteten auch die Musiker von den Versetalern und von der DJK Eintracht, sowie 19 Lebensmittelbetriebe, Gaststätten, Brauereien und Getränkehandlungen, die unentgeltlich für Speis und Trank gesorgt hatten.
Zwischen den größeren öffentlichen Aktionen lief der Spendenaufruf in Vereinen und Freundeskreisen weiter. Der Stammtisch „Freundeskreis Rot-Weiß“ überreichte eine Sammelbüchse mit 351,17 Mark. Um eine Schnapszahl zu erreichen, wurde die Spende von Stammtischbruder Hans-Joachim Köster sogleich auf 444,44 Mark aufgerundet. Später spendete der Tabakwarengroßhändler einen Tausender. Das Geld war auf einer Kunden-messe zusammen gekommen, bei der er die Werbetrommel für Wigginghausen kräftig gerührt hatte.
Oft sah man Jürgen Dietrich mit der Spenden-büchse durch Lüdenscheid ziehen, auf dem Straßenstern ebenso wie in seinen Lieblings-kneipen. Mit solch einem überwältigenden Erfolg hatte selbst der Bürgermeister nicht gerechnet. Innerhalb von gut drei Monaten waren 70.000 DM zusammen gekommen, einen Monat später weitere 10.000 Mark.
Von der kleinsten Spende (10 Mark) bis zur größten (10.000 Mark) führte der Schatzmeister der Lebenshilfe Lüdenscheid, Bruno Loch, exakt Buch. Ob kleiner Rentner oder Millionär, sie alle waren dem Aufruf des Bürgermeisters gefolgt, für jene zu spenden, die ohne Wigginghausen nach dem Tod der Eltern in geschlossenen Einrichtungen dahindämmern müssten. Märkische Künstler – Peter M. Hase, Ulrike Herfeld, Hannelore Laakmann-Gransow, Heinz Richter, Wolfgang Schur, Peter Sippel, Günter Tomczak - sowie eine Künstlerin aus Israel, Elisabeth Schneider, spendeten 50 Prozent aus dem Erlös ihrer verkauften Bilder bei einer Gemeinschaftsausstellung im Rathaus.
Ob Firmenjubiläen oder Geburtstage, Hochzeiten, Kindstaufen oder Kegel-abende, Regimentsfest der Belgier oder Begräbnisse- bei vielen Anlässen ließ man die Sammelbüchse kreisen. Bei Geburtstagen wurde auf Geschenke verzichtet und stattdessen um eine Spende für Wigging-hausen gebeten. Die Siedlergemeinschaft Pöppelsheim gab 500 Mark, groschenweise sammelten die Wehberger Kleingärtner 135 Mark zugunsten der Aktion Wigginghausen. Eine Spende in Höhe von 1.000 Mark kam von Walter Neuhaus. Benefizkonzerte wie das des MGV Union Oberrahmede und des gemischten Chores Platestahl in der Brüninghauser Halle oder das Matinee-Konzert des Hobbychores des Lüdenscheider Männerquartett in der Auslieferungshalle des Tabakgroßhändlers Hans-Joachim Köster brachten weitere Gelder ein.
Bei der Doppelhochzeit von Hans Klein und Dagmar Quinkert, sowie Detlef Quinkert und Karina Kleinwächter kamen 300 Mark zusammen. Weitere 2.500 Mark spendete das Möbelhaus Sonneborn. Das Geld stammte aus den Einnahmen eines Kinderfestes. Am 3. Advent 1980 stand eine besonders originelle Aktion der Funktaxengemeinschaft auf dem Programm. 17 Wagen überließen der Aktion Wigginghausen ihre gesamten Tagesein-nahmen, abzüglich der Treibstoffkosten. Die Rotary- und Lionsclubs Lüdenscheid veran-stalteten in der Vorweihnachtszeit 1980 in der Erlöserkirche ein adventliches Orgel-konzert, die Aktion brachte weitere 5.000 Mark in die Wigginghausen-Kasse.
Viele Spender taten Gutes, wollten jedoch unerkannt bleiben. Auch die Lüdenscheider Freimaurer engagierten sich für Wigginghausen. Die Handarbeitsgruppe der Altentagesstätte auf dem Rathausplatz veranstaltete einen Wohltätigkeitsbasar. Die belgische Artillerie verkaufte Erbsensuppe zugunsten der Lebenshilfe Lüdenscheid, so dass im Dezember 1980 bereits 100.000 Mark auf dem Konto der Aktion Wigginghausen eingegangen waren.
Ein Konzert zugunsten der Aktion Wigging-hausen fand am Sonntag, 15. März 1981, in der Halle des Tabakgrossisten Hans-Joachim Köster statt. Gestaltet Aktion Wigginghausen wurde die erste volkstümliche Matinee vom Hobbychord des LMQ, dem Sänger Harald Stein, den Bläsern Georg und Olaf Tausch, Jürgen Heller und Arthus Feller. Aufgrund der guten Resonanz wurde das Konzert stets in der Vorweihnachtszeit wiederholt. Doch schon bald reichte der Platz nicht mehr aus und die Konzerte wurden in die Schützenhalle verlegt. Insgesamt 15 Konzerte richtete Hans-Joachim Köster aus, allein dadurch kamen 300.000 Mark zusammen, bevor er seine Tätigkeit an seinen Nachfolger, den Journalisten Klaus Tiedge, übergab. Gemeinsam mit Heiko Hohage organisiert er die Konzerte.
Freude machten auch immer wieder die kleineren Spenden: So schlachtete die achtjährige Gastwirtstochter Mai Sander vom Friedrichshof im Bürgermeisterbüro ihr gläsernes Sparschwein. Ertrag: 241,35 Mark. Sämtliche Ausländervereine veranstalteten ein großes Folklorefest. Im Lüdenscheider Autohaus startete ein Frühlingsfest, das der Aktion Wigginghausen 1.000 Mark einbrachte. Die Sparkasse an Volme und Ruhr spendete 3.500 Mark anlässlich ihres Betriebsfestes. Bei der Hauptversammlung des Hegering wurde eine Kiste mit 300 Schuss Munition amerikanisch versteigert und brachte der Lebenshilfe Lüdenscheid weitere 570 Mark ein. Der SC Alfrin spendete den Reinerlös aus seiner Tanz-in-den-Mai-Veranstaltung. 500 Mark überbrachte die Kolpingfamilie, 625 Mark hatte der SGV bei seinem Homert-Picknick gesammelt. Auch der Feuerwehrlöschzug Piepersloh überreichte einen stattlichen Geldbetrag. Eine Wiegeaktion von Schwergewichten im damaligen City-Center, die die CCL Werbegemeinschaft organisiert hatte, brachte dem Wigginghausen Konto 2.500 Mark. Der damals fast 80-jährige Lüdenscheider Eugen Busch spendete seine Münzsammlung „Medaillen der Deutschen Bundesländer“.
Ein viertägiges Programm zugunsten der Aktion Wigginghausen veranstaltete eine jugoslawische Folkloregruppe aus Cacac. Den Kontakt hatte Bürgermeister Jürgen Dietrich geknüpft. IPA-Verbindungsstellenleiter Oberkommissar Karl-Rainer Weller überreichte mit 1.000 Mark einen Teil des Reinerlöses vom Polizeifest. Einen Scheck über 1.037 Mark überbrachte der damalige Betriebsleiter Max Theuring von der Firma Schönenberg an Manfred Silz. Bei dem Geld handelte es sich um den Erlös des „Tages der Auto-Elektrik“, den der Bosch-Dienst an der Altenaer Straße veranstaltet hatte. Viele Autofahrer hatten zugunsten der Aktion Wigginghausen Bremsen, Licht, Abgas oder die Batterie überprüfen lassen. Einen Scheck über 6.000 Mark konnte Silz im Haus der Gesellschaft der Baufirmen am Freisenberg in Empfang nehmen. Der Vorsitzende des Beirates, Heinrich Bock, überreichte die stattliche Spende, zu der die Gesellschaft anlässlich der Einweihung ihres Neubaus angeregt hatte. Der afghanische Arzt Dr. Anwar Nabiyar überreichte im Namen seiner Landsleute 550 Mark, der Erlös aus dem Verkauf von afghanischen Spezialitäten beim Stadtfest.
Farbenfroh gestalteten Schüler des Geschwister-Scholl und Zeppelin-Gymnasims zwei Autos des Lüdenscheider Autohauses. Einer der beiden Wagen wurde meistbietend zugunsten der Aktion Wigginghausen versteigert.
Im März 1984 war es dann soweit: Nach einer Spende in Höhe von 100.000 Mark durch den aus Lüdenscheid stammenden Unternehmer Karl Reeber konnte die Eine-Millionen-Mark-Grenze überschritten werden. Nach drei Jahren Vorbereitungszeit konnte im Juli 1982 mit den umfangreichen Renovierungs- und Umbauarbeiten nach den Plänen des Lüdenscheider Architekten Wolfgang Winkel begonnen werden. Die Firma Schwarz & Born führte die Roharbeiten aus. Am 3. Mai 1983 gründeten folgende Personen den Beirat für die Aktion Wigginghausen: Jürgen Dietrich als Vorsitzender und Hans Medernach als stellvertretender Vorsitzender. Beisitzer waren: Peter Dicke, Elmar Disse, Friedhelm Köhle, Hans-Joachim Köster, Udo Lütteken, Dr. Jürgen Schmitz, Dr. Peter Stuchtey, Hans Wachtmeister, Manfred Silz sowie Wolfgang Winkel.
Nicht mal ein Jahr später am 12. Januar 1984 konnten die ersten Bewohner mit verschiedenen Beeinträchtigungen einziehen. 23 Einzel- und zwei Doppel-Appartements, einschließlich aller erforderlichen Gemeinschafts-und Wirtschaftsräume waren fertig gestellt. Jedes Appartement hatte einen Wohnschlafraum, ein eigenes Bad mit Dusche, Toilette und Waschbecken – und einen offenen Vorraum mit großem Garderobenschrank.